Sierra Leone

Stand: August 2023

Sierra Leone ist ein anglophoner Staat an der westafrikanischen Küste mit ca. 8 Mio. Einwohner*innen.

In den letzten Jahren gab es in Sierra Leone auf der einen Seite positive Entwicklungen im Hinblick auf die menschenrechtliche Lage. So wurden Menschenrechtsinstitutionen gestärkt und zum Teil neue Institutionen geschaffen – insbesondere zum Schutz von Frauen und Kindern. Außerdem hat die Regierung das Verbot für schwangere Mädchen, reguläre Schulen zu besuchen, aufgehoben und zwei neue politische Strategien für „radikale Inklusion“ und „umfassende Sicherheit“ aller Kinder im Bildungssystem auf den Weg gebracht. Auch die Bestimmungen über Verleumdung und Volksverhetzung aus Teil V des Gesetzes über öffentliche Ordnung von 1965 wurden aufgehoben, wie von Amnesty International seit langem gefordert.

Auf der anderen Seite gibt es jedoch nach wie vor besorgniserregende Punkte im Hinblick auf die Menschenrechtslage. Zentrale Probleme sind die Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts, sich friedlich zu versammeln. Es kommt zum Einsatz rechtswidriger Gewalt durch Sicherheitskräfte und zu willkürlichen Verhaftungen. Darüber hinaus können verschiedene gesetzliche Bestimmungen weiterhin genutzt werden, um die Menschenrechte einzuschränken.

Politischer Hintergrund

Julius Maada Bio von der SLPP (Sierra Leone People’s Party) wurde am 24. Juni 2023 mit 56 Prozent der Stimmen als Staatsoberhaupt von Sierra Leone wiedergewählt und konnte damit eine zweite Amtszeit antreten. Der stärkste Gegenkandidat, Samura Kamara von der von der APC (All People’s Congress) kam nach der offiziellen Auszählung auf 41 Prozent. Er gab bekannt, dass er das Wahlergebnis nicht anerkenne.

Rund um die Wahl kam es zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Anhänger*innen der Opposition. Exzessive Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte ist ein tief verwurzeltes Problem in Sierra Leone (s. u.).

Menschenrechtslage

Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und anderen Menschen, die öffentliche Funktionsträger*innen kritisieren, wird häufig das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, sich friedlich zu versammeln, verwehrt. Im Rahmen des UPR-Prozesses akzeptierte die Regierung 2021 die Empfehlung, ein Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen zu erlassen.

Bei Protesten gegen die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten am 10. August 2022 sind Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Diese Vorfälle müssen unabhängig und unparteilich untersucht werden. Außerdem wurden Berichten zufolge mehr als hundert Menschen festgenommen. Die Behörden müssen sicherstellen, dass Unbeteiligte und friedliche Demonstrierende nicht willkürlich inhaftiert werden. In Fällen, in denen den Behörden ausreichende Beweise für die Gewaltanwendung Einzelner während der Demonstrationen vorliegen, muss das Recht auf ein faires Verfahren, einschließlich des Rechts auf Vertretung, gewährleistet werden. Ausführliche Informationen dazu findet ihr hier.

Am 10. und 11. August 2022 kam es zudem sporadisch zu Internetsperren. Da sich Demonstrierende häufig über die sozialen Netzwerke, Messenger-Dienste oder andere digitale Technologien austauschen uns zusammenschließen, stellen Einschränkungen des Zugangs zum Internet eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf Information dar.

Im Juli 2022 wurden zwei Oppositionspolitiker*innen wegen Anstiftung zu einem rechtswidrigen Protest festgenommen, nachdem sie an einer Demonstration gegen die hohen Lebenshaltungskosten teilgenommen hatten. Nach vier Nächten in Haft wurden sie freigelassen, ohne dass Anklage gegen sie erhoben wurde.

Im Mai 2022 warf der Journalist*innenverband von Sierra Leone der Regierung vor, den Straftatbestand der Aufwiegelung für die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung zu instrumentalisieren.

Im Februar 2022 wurde der stellvertretende Sprecher der Oppositionspartei All People’s Congress wegen Aufwiegelung festgenommen und zwei Tage lang festgehalten, nachdem er im Radio gesagt hatte, die Bürger*innen Sierra Leones sollten dafür sorgen, dass die Regierungspartei im Jahr 2023 abgewählt wird.

Die Bestimmungen über Verleumdung und Volksverhetzung aus Teil V des Gesetzes über öffentliche Ordnung von 1965 wurden 2019 aufgehoben. Dies hatte Amnesty International seit langem gefordert. Stattdessen wurde 2020 ein Gesetz über eine Unabhängige Medienkommission (Independent Media Commission, IMS) erlassen. Gemäß Teil III des Gesetzes stehen jedoch spontane Versammlungen unter Strafe. Tagen wieder freigelassen.

Rechtswidrige Gewalt durch Sicherheitskräfte

Amnesty International ist besorgt über die Maßnahmen der sierra-leonischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte zum Schutz der öffentlichen Ordnung.

Am 12. April 2021 beteiligten sich Studierende des Instituts für öffentliche Verwaltung und Management (Institute of Public Administration and Management) an einem Protest gegen die Veröffentlichung einer unvollständigen Absolvent*innenliste, auf der die Namen Hunderter potenzieller Absolvent*innen fehlten. Die Polizei trieb die Demonstrierenden gewaltsam auseinander. Dabei schlugen Polizist*innen eine Frau und rissen ihr das Oberteil vom Leib.

Drei Tage später erschoss in der Gemeinde Hastings, einem Vorort der Hauptstadt Freetown, ein Polizist einen jungen Mann wegen einer privaten Landstreitigkeit. Nach einer internen Untersuchung wurden fünf Polizist*innen aus dem Dienst entlassen. Der Polizist, der die Waffe abgefeuert hatte, wurde festgenommen und wegen Mordes angeklagt.

Am 17. und 18. Juli 2020 setzten Verteidigungs- und Sicherheitskräfte bei Protesten in Makeni, die gewalttätig geworden waren, exzessive Gewalt gegen Demonstrierende ein. Mindestens fünf von ihnen wurden erschossen. Die Proteste richteten sich gegen die Entscheidung der Regierung, einen Stromgenerator in eine andere Stadt zu verlegen.

Exzessive Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte ist ein tief verwurzeltes Problem in Sierra Leone. Bereits 2018 zeigte ein Amnesty-Bericht, dass Gewalt systematisch eingesetzt wird, um Proteste zu unterdrücken. Von 2008 bis 2018 sind dadurch mindestens 9 Personen ums Leben gekommen. Zudem wurden mindestens 80 Personen verletzt und 80 Personen willkürlich festgenommen und/oder ihre Häuser geplündert.

Eines der Hauptprobleme in dieser Hinsicht ist die Straflosigkeit. Zwar wurde 2015 die Unabhängige Beschwerdestelle der Polizei (Independent Police Complaints Board, IPCB) eingerichtet, doch ihr fehlt es an Ressourcen und einem klaren rechtlichen Rahmen, weshalb Reformen notwendig sind. Am 26. April 2019 sicherten staatliche Stellen zu, rechtliche Reformen einzuleiten, um der Unabhängigen Beschwerdestelle mehr Befugnisse und mehr Eigenständigkeit zu geben. Auch die interne Beschwerdestelle Complaint Discipline and Internal Investigations Department (CDIID) muss angepasst und gestärkt werden, um für die Bevölkerung leichter zugänglich und transparenter zu werden.

Die Polizei muss grundlegend reformiert werden, damit sie internationalen Standards entspricht – insbesondere den Leitlinien der Kommission der Afrikanischen Union zu Polizeieinsätzen bei Versammlungen. Die bewaffnete Einheit der sierra-leonischen Polizei OSD (Operational Support Division) nutzt nach wie vor extrem gefährliche Kriegswaffen wie Kalaschnikows und Selbstladegewehre, die für Einsätze der Polizei ungeeignet sind. Zwar werden zunehmend weniger tödliche Waffen wie Tränengas, Taser und Schlagstöcke verwendet, doch kann es auch dabei zu erheblichen Verletzungen kommen, sodass ihr Einsatz stärker reguliert und ihr Missbrauch bestraft werden muss.

Rechte von Frauen und Mädchen

Nach Statistiken des UN-Kinderhilfswerks UNICEF waren in Sierra Leone 83 Prozent der Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren einer Genitalverstümmelung unterzogen worden. 30 Prozent aller Frauen zwischen 20 und 24 Jahren waren vor Erreichen des 18. Lebensjahres verheiratet worden. Die Ministerin für Genderfragen und Kinder erklärte im Juni 2022, dass die Regierung das Kinderrechtsgesetz ändern werde, um Frühverheiratung und weibliche Genitalverstümmelung an Minderjährigen zu verbieten. Im Juli 2022 wurde in der Stadt Moriba eine Frau, die Genitalverstümmelungen vornahm, wegen Totschlags angeklagt, nachdem eine 21-jährige Frau einen Tag nach der von ihr durchgeführten Genitalverstümmelung gestorben war.

Im August 2022 wurde ein Gesetz über Landrechte (Customary Land Rights Act) erlassen. Das Gesetz gibt Frauen gleiche Rechte in Bezug auf den Besitz und die Nutzung von Grundstücken in Familienbesitz. Im selben Monat wurde das Gesetz über die Nationale Landkommission verabschiedet, durch das eine Kommission eingesetzt wurde, die einen geschlechtersensiblen Ansatz für die Bodenverwaltung verfolgen soll.

Im September 2022 unterzeichnete der Präsident ein neues Wahlgesetz. Darin ist festlegt, dass ein Drittel der Bewerber*innen um ein Abgeordnetenmandat Frauen sein müssen.

Im November 2022 verabschiedete das Parlament einen Gesetzentwurf über die Gleichstellung der Geschlechter und Frauenförderung. Er enthält eine Bestimmung, wonach 30 Prozent aller Stellen in der Regierung für Frauen reserviert sein müssen. Gleiches gilt für Unternehmen mit mindestens 25 Beschäftigten.

Im Laufe des Jahres 2022 wurden landesweit 800 Minderjährige wieder in den Schulbetrieb integriert. Unter ihnen waren schwangere Mädchen und Mädchen, die die Schule wegen ihrer Schwangerschaft abgebrochen hatten. Auch Kinder mit besonderem Förderbedarf sowie Kinder aus abgelegenen Gebieten und aus armen Familien zählten dazu.

Recht auf Gesundheit

Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit ist hoch. In den Sozialen Medien wurde 2021 der Mangel an sanitären Einrichtungen in zwei der wichtigsten staatlichen Krankenhäuser in Freetown, dem Connaught Hospital (dem wichtigsten Krankenhaus für Allgemeinversorgung) und der Frauenklinik Princess Christian Maternity Hospital (PCMH) heftig kritisiert. Am 13. April 2021 kündigten Ärzt*innen in Ausbildung einen Streik an und forderten u. a. eine saubere Arbeitsumgebung im Connaught Hospital und die Versorgung mit fließendem Wasser für das PCMH.

Durch den Bürgerkrieg von 1991 bis 2002 und die Ebola-Epidemie von 2014 bis 2016 leiden viele Menschen in Sierra Leone unter psychischen Langzeitfolgen. Ein Bericht von Amnesty International zeigte, dass der Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung jedoch sehr begrenzt ist. Zu den Faktoren, die eine angemessene Versorgung verhinderten, gehören mangelnde staatliche Finanzierung, unzureichende Unterstützung durch Geber und ein Mangel an qualifizierten Fachkräften für psychische Gesundheit. In ganz Sierra Leone gab es 2021 nur 3 Psychiater*innen und 20 Krankenschwestern und -pfleger im Bereich der psychischen Gesundheit.

Die noch aus der Kolonialzeit stammende diskriminierende Gesetzgebung zur Regelung des Umgangs mit psychisch Kranken (der sog. „Lunacy Act“) wird aktuell überarbeitet. Bei bisherigen Versuchen, das Gesetz zu reformieren kam es jedoch mehrfach zu Verzögerungen.

Regionale und internationale Verträge verpflichten Sierra Leone dazu, hohe Standards im Bereich der psychischen Gesundheit einzuhalten, zu schützen und zu erfüllen. Reichere Länder stehen in der Pflicht, hier Unterstützung zu leisten, um das Recht auf Gesundheit zu wahren.

Weltweit wird nur ca. 1 % der Entwicklungshilfe im Gesundheitsbereich für die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung ausgegeben. Diese mangelnde Priorisierung führt dazu, dass das Recht auf psychische Gesundheit missachtet wird und Personen mit psychischen Problemen ausgegrenzt werden.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Seit Jahren fördert das Unternehmen Meya Mining im Distrikt Kono Diamanten. Recherchen von Amnesty International förderten zahlreiche Beeinträchtigungen der Gemeinden im Umfeld der Diamantenmine zutage. Dazu zählen verschmutztes Wasser in Bohrlöchern des Unternehmens und Gefahren für die in der Nähe der Diamantenmine lebenden Gemeinschaften beispielsweise durch Sprengungen. Auch andere Verstöße gegen die sozioökonomischen Rechte der lokalen Bevölkerung, wie die Zerstörung landwirtschaftlich genutzter Flächen, gehören dazu. So wurden in von Amnesty gezogenen Wasserproben stark erhöhte Nitratkonzentrationen festgestellt, die insbesondere für Säuglinge eine akute Gesundheitsgefährdung darstellen können.

Nachdem Amnesty International diese Probleme den Behörden von Sierra Leone und Meya Mining vorgebracht hatte, erhielt die Organisation im August 2022 eine Antwort des Unternehmens. Darin führte Meya Mining die Maßnahmen auf, die es unternommen hat, um umliegende Gemeinden zu konsultieren und schädliche Auswirkungen wie Wasserverschmutzung durch seine Bergbauaktivitäten zu vermeiden. Von den Behörden Sierra Leones hat Amnesty International bisher noch keine überzeugende Antwort erhalten. Weiterführende Informationen zu diesem Thema sind in dieser Pressemitteilung zu finden.

Im August 2022 erließ die Regierung ein neues Gesetz über die Erschließung von Bergwerken und Bodenschätzen, das den sozioökonomischen Nutzen von Bergbauprojekten für das Land verbessern und die Transparenz bei der Verwaltung des Sektors erhöhen soll.

Haftbedingungen

Die Gefängnisse in Sierra Leone sind überbelegt und genügen internationalen Standards nicht. Um die überfüllten Gefängnisse zu entlasten, hielt die Justiz eine nationale “Woche der Justiz” (Judicial Week) ab, in deren Folge bis zum 4. Februar 2022 landesweit 374 Inhaftierte gegen Kaution freigelassen und 234 weitere freigesprochen und aus der Haft entlassen wurden.

Im Juni 2022 beantragte die Menschenrechtskommission von Sierra Leone einen Besuch in der Hafteinrichtung “Benghazi” in Freetown, wo Inhaftierte, die den Präsidenten kritisiert hatten, Berichten zufolge gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Ende 2022 war der Besuchsantrag noch nicht genehmigt worden.

LGBTI

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) werden in Gemeinschaften und Gesundheitszentren diskriminiert und stigmatisiert. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind nach Paragraf 61 des Gesetz es über Straftaten gegen die Person (Offences Against the Person Act) mit bis zu lebenslanger Haft belegt.

Sierra Leone hat den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte unterzeichnet (1996), erkennt aber Diskriminierung von LGBTI nicht an. Der Menschenrechtsausschuss des Landes schützt LGBTI nicht. Die Regierung lehnte 2021 sämtliche Empfehlungen aus dem UPR-Prozess zum Schutz der Rechte und der Würde von LGBTI+ ab.

Todesstrafe

Am 23. Juli 2021 stimmte das Parlament des Landes einstimmig für die Abschaffung der Todesstrafe, nachdem der Justizminister bereits im Mai 2014 angekündigt hatte, einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Todesstrafe vorzulegen.

Amnesty International fordert die sierra-leonische Regierung auf,

  • das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit zu wahren und der willkürlichen Inhaftierung von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen ein Ende zu setzen;
  • sicherzustellen, dass Verteidigungs- und Sicherheitskräfte die internationalen Menschenrechtsstandards bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung berücksichtigen – insbesondere die Leitlinien der Kommission der Afrikanischen Union zu Polizeieinsätzen bei Versammlungen;
  • Verteidigungs- und Sicherheitskräfte für den Einsatz rechtswidriger Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen;
  • stärker gegen sexualisierte Gewalt vorzugehen und den Betroffenen Zugang zu Gerechtigkeit, Gesundheitsversorgung und rechtlicher Unterstützung zu gewähren;
  • das Recht auf Gesundheit – einschließlich psychischer Gesundheit – für die gesamte Bevölkerung sicherzustellen und Mindeststandards für Haftbedingungen zu gewährleisten;
  • Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche vor Diskriminierung und Stigmatisierung zu schützen.

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5. März 2024